
Schneekanacken (Chapter 09)
Darf einer wie ich Kanacke im Internetradio sagen? In Zeiten, in denen klassische Kinderbücher, wie die „Pipi Langstrumpf“ oder „Jim Knopf“, von den Ausdrücken „Negerlein“ oder Insulaner befreit werden, um die, eh jeglichen Wortschatzes und Ausdruckes beraubte, Jugend unseres Landes vor Rassismus und Ausländerfeindlichkeit zu retten, muss man sich diese Frage schon stellen. Andererseits wird man regelmäßig aggressiv, wenn man ein Gruppe Halbstarker, gleich jeder Couleur, schwätzen hört, wie man im Stuttgarter Kessel zu sagen pflegt, und nichts außer einem Haufen gequirlter Scheiße, unter den Kids auch „kannakisch“ genannt, herauskommt. Da ich mich gestern wie heute zur freien, sozialen und weltoffenen Linken zugehörig fühle, muss sich niemand Gedanken um meine Einstellung gegenüber anders denkenden oder anders aussehenden Menschen machen. Und „Kanacke“ sollte sich, wie ich finde, um einen Platz im deutschen Duden und Sprachgebrauch bewerben!
Wie auch immer. Auf meinem Heimweg vom Job im abendlichen Schneegestöber von Heilbronn kommt ein junger Mann zielgerichtet mit Flyern bewaffnet auf mich zu. Er hält mir einen seiner Flyer entgegen und sagt: „Zwei Euro Döner ein Monate?“ - „Ähhh...was?“ Ich bleibe kurz stehen und sehe Ihn freundlich aber verständnislos an. - „Zwei Euro Döner ein Monate!“ - Er wiederholt sich bewusst und ausdrücklich. Kann also kein Versprecher gewesen sein... - „Nene...danke!“ Mit diesen Worten gehe ich zwei Schritte weiter, fange an zu grinsen, bleibe stehen, um mich nach ihm um zu drehen – er ist aber bereits in Schnee und Dunkelheit verschwunden. Es war der Tonfall bzw. Akzent. Eben jenes kannakisch, dass mir kurz Belustigung, Nachdenklichkeit und dann einen Hauch Traurigkeit bis Wut bescherte.
Ach was habe ich es geliebt. Fillipos, bereits in jungen Jahren stark ausgeprägte, Reibeisenstimme mit den typischen sizilianischen Ecken im Deutsch. Gorans Jugodeutsch und meine beiden Vietnamesen Duck und Son, mit dem leicht nasalen, Entenslang. Oder wenn ich mich heute mit meinen beiden ehemaligen Chefs Dimi und Foti in deutsch/gricchhis austausche. Alle meine ausländischen Freunde, haben nicht nur ein Stück ihrer Kultur, sondern auch ihr eigenes Deutsch – ihren eigenen Akzent – mitgebracht. Heute gibt es keine Ausländer mehr. Alle sehen gleich aus und alle reden gleich – kannakisch. Porno und Hartz IV haben auch im Sprachgebrauch längst Einzug gehalten. Bin ich beim ersten Mal „Penis“ sagen noch knallrot geworden, so weiß heute jeder Vorschüler was ein Gang Bang ist. Die Sprache bzw. die Umgangsformen sind ein Spiegel unserer Gesellschaft. Vom Konsum und Sex völlig überreizt, verliert der Mensch völlig den Bezug zu Wort und Schrift. Kommuniziert wird auf von der Konsumgüterindustrie eingeführten Geräten, per Chat und E-mail. Hier in möglichst knappen Worten und unter Zuhilfenahme unzähliger Kürzel, Buchstabenkombinationen oder Emoticons. Gesprochen miteinander wird kaum. Beziehungskisten gar nicht erst ausgetragen – man trennt sich einfach vorher. Selbst telefoniert wird kaum noch. Es gibt ja SMS, WhatsApp und wasweißichnoch... . Heraus kommt ein „Zwei Euro Döner ein Monate?!?“ incl. Handzettel und selbstbewusstem Gesichtsausdruck. Und der Gedanke an eine Zeit, als ein Türke noch ein Türke war. Und nicht irgendein Kanacke ohne Gesicht und Namen.
„Zwei Euro Döner ein Monate?!?“. Wahrscheinlich gibt’s eine Übersetzung. Ich werde sie recherchieren.